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Ottilies’ Geschmacksbildung im Alten Land

Über diesen schönen Ort mit dem verheißungsvollen Namen wollten wir unbedingt berichten. Im Frühjahr oder Herbst, wenn die Landschaft im Alten Land bei Jork besonders reizvoll ist. Wir wollten die fantastischen Torten zeigen und über summende Bienen schreiben. Volle Blütenpracht, satte Früchte überall, Wildkräuter und Apfelstreusel. Dann wurde es Spätherbst …
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ie Farben wechseln zwischen zartem Blau, leichtem Gelb, kräftigem Grün und ganz vorsichtigem Rot. Statt Selbstgebackenem gibt es Sinn. Statt Bienensummen, Frauenpower. Und aus einer geplanten Stunde wurden fast vier.

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Die  Energie folgt der Aufmerksamkeit

Auf dem Weg nach Hause halten wir im Hamburger Oberhafen. In der Hobenköök erstehen wir frisches Gemüse und Obst. Auch ein paar Stücke Kuchen soll es geben. Apfelstreusel, Carrot-Cake, Schoko- und Käsekuchen, glutenfrei, stehen zur Auswahl. Glutenfreier Käsekuchen!? ‘Ne, lass mal’ denke ich, doch der Mitarbeiter am Tresen setzt sich für ihn ein. “Der ist von Ottilie und schmeckt richtig lecker.” Wir kennen Ottilie nur vom Hörensagen, vertrauen aber dem jungen Mann und seiner Empfehlung. Bitte einpacken, zweimal und die Apfelstreusel zu Sicherheit noch mit dazu. Doch er sollte Recht behalten.

Am nächsten Tag sind wir im Alten Land mit den Gründern von klaar verabredet. Beim Tschüss sagen meint Arno, wenn wir schon mal hier sind, sollten wir doch bei Ottilie vorbeischauen. Da war sie wieder. Nun sind wir aber wirklich neugierig und tippen die Adresse ins Navi. 7 Minuten später stehen wir in Mittelnkirchen bei Kerstin Hintz auf dem Hof. Das Café hat geschlossen, in diesen Zeiten leider nicht ungewöhnlich. Kerstin aber ist eine Frau, die nicht so leicht zu erschüttern ist. Mit wachem und neugierigem Blick werden wir begrüßt. Sofort sind wir ins Gespräch vertieft. Natürlich geht es um die Folgen der Pandemie, aber auch um das Thema Mitarbeiter, wir sprechen über die Kulturlandschaft, kommen von Hölzchen auf Stöckchen. Eine halbe Stunde später verabschieden wir uns mit einem Termin für ein weiteres Treffen in der kommenden Woche und haben wieder Kuchen dabei.

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Anfang Dezember, die Welt ist grau. Wir fahren am Lühedeich entlang und biegen rechts ab auf den Parkplatz. In der Mitte des Hofes steht stolz ein Baum. Die schöne Walnuss ist fast 100 Jahre alt. Ein wunderbarer Kraftplatz und vielleicht einer der ersten Gründe für die besondere Atmosphäre, die sich schwer in Worte fassen lässt. Schon jetzt ist die Welt ein bisschen farbiger geworden.

“Miterleben zu können, wie sich die Artenvielfalt auf unserem kleinem Betrieb entwickelt, wie durch extensives wirtschaften neue Refugien entstehen, ist pures Glück. Daraus entsteht Leidenschaft und der feste Wille, diesen Weg kontinuierlich fortzusetzen.”

 

Kerstin, gebürtige Hamburgerin, ist Bäuerin. Nicht von Geburt, sondern aus Berufung. Sie hat es sich bewusst so ausgesucht. In den frühen 80er ist sie auf dem Weg von zu Hause im Hamburger Westen zu Oma Ottilie nach Stade durchs Alte Land geradelt. Sie erinnert sich gut und gerne an diese Zeit. Damals gab es hier viele Kleinbauern. Nach und nach verschwanden diese. Immer mehr Großbetriebe entstanden. Viele setzten auf konventionellen Anbau. Die alten Gräben wurden verfüllt, mit verhängnisvollen Folgen, bis heute.

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Oma Ottilie, deren Name so lebendig bleibt, war eine resolute Persönlichkeit, die alle und alles zusammengehalten hat. Hier wurzeln auch die Koch- und Backkünste ihrer Enkelin Kerstin.

Die wusste schon früh, dass sie kein Stadt- sondern ein Landleben führen möchte. Für die gelernte Zahnarzthelferin, ZFA und Pädagogin war es 2003 dann soweit. Sie und ihr Mann Kay, ein Tonmeister, kauften ihr eigenes, zwei Hektar großes Reich im Urstromtal der Elbe. Ein Viertel des Landes war mit alten Apfelbäumen bepflanzt, die sie im „Nebenerwerb” bewirtschaften wollten. Der mindestens 170 Jahre alte Resthof mit Haupthaus und drei Nebengebäuden lag seit Jahren brach. Es gab viel zu tun, auch finanziell.

Das Konzept sah vor, die eigenen Äpfel zu vermarkten, eine Imkerei zu unterhalten und Bildungsveranstaltungen für Kinder anzubieten. Kerstin brennt für Bildung. Es ist der einzige Weg, die Welt nachhaltig zu verändern.

Doch dem Plan kam ein Pilz mächtig in die Quere. Die mit Totholz verfüllten Gräben sind ein Tummelplatz für den Hallimasch. Die Pilzfreunde denken jetzt womöglich an leckere Rezepte. Dem Landwirt hingegen sträuben sich die Nackenhaare. Der Hallimasch ist der Todfeind der Obstbäume. Kerstin verlor alle Bäume, musste das Land roden und neu denken.

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„Transformation gelingt nur über Bildung!”

Kerstin hat auf dem Land einen extensiven Gemüse- und Beerengarten angelegt und neue Bäume gepflanzt. Um die 30 Apfelsorten und seltene Birnen, Zwetschen und Renekloden, Beeren und Quitten, Walnüsse, Wildkräuter und Beete mit alten Gemüsesorten tragen inzwischen zu einem nachhaltigen Genuss- und Sinn-Erlebnis bei.

Bei Ottilie ist immer alles transparent und es gibt meistens Zeit für ein bisschen Warenkunde. Hier kann man am besten zeigen, wie leckere Gerichte und Kuchen mit wenig Zucker und den eigenen Bio-Produkten hergestellt werden. Der Biohof als Lernort, ein wunderbares Konzept, das die Menschen von nah und fern schätzen gelernt haben.

Im Einklang mit der Natur wirtschaften: Wir sind ein Bioland zertifizierter Betrieb und arbeiten nach den strengen Richtlinien unseres Verbandes. Bei uns steht Genuss im Mittelpunkt. Ankommen, Pause machen und alle an einen Tisch. Ottilie vereint feinste Fair-Trade und ökologisch-zertifizierte Produkte aus überwiegend kleinbäuerlicher Erzeugung.

 

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Kerstin ist engagiert, politisch, neugierig. Sie lebt für den Austausch in der Gemeinschaft. Da überrascht es nicht, dass Sie seit Jahren im Vorstand des Bioland-Verbandes zu finden ist. Dass sie sich in lokalen und regionalen Gemeinschaften einbringt und vernetzt. Ihr Ziel ist die Bewirtschaftung nach den Regeln der Permakultur, die darauf basieren, natürliche Ökosysteme und Kreisläufe in der Natur genau zu beobachten und nachzuahmen. Wir brauchen resiliente und artenreiche Landschaften, die uns ernähren und weder die Pflanzen- noch Tierwelten schädigen oder die Böden auslaugen.

“Mein Bioland: Bäuerinnen und Partner gepaart mit aktiver politischer Arbeit, eine demokratische Struktur von gewählten DelegiertenInnen ergänzt mit agilen, engagierten, hoch qualifizierten hauptamtlichen MitarbeiterInnen zeichnet meinen Verband aus. Schon in den jungen Jahren unseres Betriebes 2003 wollte ich dazu gehören, teilhaben. Die Landwirtschaft der Zukunft mit gestalten zu können ist bis heute mein Wunsch, meine Leidenschaft, meine Wirtschaftsform.
Es brauchte noch einige Jahre … seit 2011 gehören wir nun mit vollem Herzen der großartigen Bioland-Familie an.”

Seit Kerstin im Alten Land lebt, hat sie in keinen konventionellen Lebensmittelladen mehr eingekauft. Einmal hat sie bewusst einen besucht, um sich die Fertigprodukte, wie z.B „Bratkartoffel TK” anzuschauen, von denen Teilnehmerinnen ihrer Seminare berichtet haben. Die Ungläubigkeit steht ihr noch neue heute ins Gesicht geschrieben.

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Die Zeit vergeht wie im Flug. Das waren viele tolle Blicke über den Kuchenteller hinaus. Leider bleibt dieser Corona geschuldet leer. Aber, es gibt ja noch den Hofladen. Der befindet sich in der Tenne des Wohnhauses gegenüber. Für die Familie bedeutet es eine Einschränkung, aktuell ist es aber die beste Lösung.

Für uns ist es ein kleines Paradies. In den Regalen stehen bunte Gläser mit Gelees, Mark, Chutneys. Säfte aus regionalem Obst und alles, was man sonst noch zum gelungenen (kulinarischen) Leben braucht: ausgewählte Produkte von kleinen Manufakturen, Eier, Kartoffeln, Wurst, Schnaps, Wein, Brot und – Apfelketchup.

Das ist inzwischen fast ebenso berühmt, wie die Kuchen. Kreiert von Kerstin aus alten Apfelsorten. Ein fruchtiger, handwerklicher Apfelketchup mit ausschließlich kontrolliert-biologischen Zutaten. Ohne Konservierungskram und ohne Tomaten. Eine Hommage an die alten Rezepte ihrer selbstgesuchten Heimat. Darauf wurde auch der Sternekoch Jens Rittmeyer aufmerksam, der ihm noch den letzten, feinen Schliff verlieh. Neu angekommen in der Region fand er in Kerstin die perfekte Partnerin für einen Farm-to-Table-PopUp, den sie gemeinsam an 3 Wochenenden bestritten. Inzwischen ist er ein lieber Wegbegleiter und Freund.

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Wie wir inzwischen ja wissen: Ottilies Kuchen sind legendär. Regelmäßig taucht sie in den Top Ten der charmantesten Gartencafés Deutschlands auf. Davon werden wir uns hoffentlich im Frühjahr 2021 wieder persönlich überzeugen können. Jetzt sind andere Dinge zu tun. Den Online-Shop ausbauen zum Beispiel. In letzter Zeit wurde an den Konzepten gefeilt, der Auftritt wurde professionell und markant überarbeitet. Der tradierte, apfelrote Schriftzug wurde in das reduzierte, schwarze Markenzeichen weiterentwickelt. Ein “O” in Apfelform sagt es klar und deutlich. Hier bin ich, Ottilie. Der Versuch, es allen Recht zu machen, wich der Realität und der Konzentration auf das Wesentliche. Die Rechnung ging auf. Bis März 2020. Seitdem ist auch diese Welt hinterm Deich wieder eine andere. Aus- und Umbaupläne wurden erste einmal gestoppt. Wieder müssen Kerstin und ihre Familie neue Weichen stellen. Für sich und ihre Mitarbeiter.

Wir freuen uns schon jetzt darauf, Ottilie wieder so zu erleben, wie es ist: „Alle an einen Tisch, Transparenz bis in die Haarspitze, genussvoll, konsequent und ehrlich.”

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#foodforthought  #gedankenanstoss  

Das Kind auf der Schaukel hat eine Stulle in der Hand, belegt mit Bärchenwurst. Die sieht so niedlich aus. Das Kind weiß nicht, dass Wurst aus Tieren gemacht wird. – Die Geschmacksnerven werden schon früh an den Zucker gewöhnt, der heute in fast allen Produkten zu finden ist. Das Gehirn löst bei Zucker Dopamin aus. Das kann der Beginn einer Sucht sein. – Was gibt es heute zu essen? Weißt du, wie du deinem Leib etwas gutes tust?

Biohof Ottilie und Ottilie Hofcafé

Kerstin Hintz

  • Ort 19
    21720 Mittelnkirchen – Altes Land
  • Mail: post@biohof-ottilie.de
  • T: 04142 81 26 34
  • www.biohof-ottilie.de

 

 

Das Experiment

Diese Story erscheint in der dritten Ausgabe unseres Magazins. Das Gespäch mit Kerstin Hintz hat uns dazu motiviert, noch mehr in unserem Leben zu verändern.

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2021 geht es los. Wir wollen uns ein halbes Jahr lang an selbst aufgestellte Regeln und Vereinbarungen halten, um uns besser, sprich nachhaltiger, gesünder und verantwortungsbewusster zu ernähren. Das werden wir dokumentieren und auch messbar machen. Mehr dazu lest ihr in den sozialen Netzwerken und auf diesen Seiten …