Billy Wagner vom Nobelhart und Schmutzig

Speise lokal!

Wer sich in Berlin auf die Suche nach dem guten Geschmack begibt, der kommt an diesem Sterne-Etablissement kaum vorbei. Im Nobelhart & Schmutzig von Billy Wagner wird gegessen, was auf den Tisch oder besser gesagt auf den Tresen kommt. Dieser vermeintlichen Diktatur versuchen wir uns ja seit Kindheitstagen zu entziehen, hier schicken wir uns an eine ordentliche Stange Geld dafür zu bezahlen. So viel nehmen wir schon mal vorweg: Das Genusserlebnis war uns jeden Cent wert.
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„Who the Fuck is Paul Bocuse?“

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ir sind neugierig auf den Mann, der sich so ausgezeichnet mit Wein auskennt, und der ein Restaurant betreibt, an dem wir beim ersten Mal schon glatt vorbei gelaufen sind. Aufgefallen waren uns, eher beiläufig, zwei großformatige abstrakte Kunstwerke, die im Schaufenster hängen. Bescheidenheit oder Zurückhaltung sind es nicht, wohl eher eine Form der “Unkonventionalität”. Damit haben wir vielleicht auch schon den Kern und das Wesen des Mannes mit der schwungvollen Frise und dem exzentrischen Bart erfasst.

Billy, der Wirt, (übrigens kein Spitzname, er heißt wirklich so) kommt ein wenig später. Kein Problem, so können wir uns schon mal akklimatisieren: akzentuiertes Licht, satte dunkle Farben, viel Holz und ein Spiegel. Eine lange Wand, die alle Blicke verhüllt. Mehr sehen wir (noch) nicht. Das ist so gewollt. No Photo-Policy, thanks. Der Gast soll sein kulinarisches Wunder erleben. Und das wird er auch. Die Vorbereitungen laufen, im Hintergrund spielt die Musik. Die Atmosphäre, eine angenehme Mischung aus Konzentration, Professionalität und Gelassenheit. Als Billy eintrifft, ist er sofort auf Betriebstemperatur. Seine Augen und Ohren sind überall. Er spricht schnell, klar und ohne Schnörkel. Die Energie im Raum steigt.

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Es wird politisch. Vor uns liegt ein Berliner Tagesspiegel, der über das viral gegangene Video berichtet, in dem Billy Wagner sich für die Gastronomie an den Berliner Senat bezüglich der verordneten Sperrstunde richtet.

 

„Da wird über die Gastronomie entschieden und von uns sitzt niemand mit am Tisch. Ich bin gar nicht grundsätzlich gegen eine Sperrstunde. Vielmehr müssen wir diskutieren, was der richtige Weg ist. Und wir müssen die Gastronomie mit ins Boot holen, damit es auch umgesetzt wird.”

 

Das Engagement ist nicht neu. Billy betrachtet Essen als politischen Akt. Es beginnt bei der Produktion der Lebensmittel, dem Umgang mit unserem Planeten und allem, was sich darauf befindet.

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In der Gastro ist es üblich, vor dem Beginn gemeinsam zu essen. Heute sitzt Billy mit seinem Abendessen bei uns. Er wird dabei nicht müde, laut und quer durch den Raum seine Begeisterung für die gute Qualität zu äußern. Uns läuft dabei schon ein wenig das Wasser im Munde zusammen. Tapfer nehmen wir einen Schluck gefiltertes Trinkwasser aus den hübschen Gläsern und lassen uns vom Geschehen im Hintergrund gerne etwas ablenken. Dort sortiert der Sommelier Andy Fissel lässig spannende Weine. Ein Schätzchen gesellt sich zum anderen auf den Boden: ein 85er Campo delle Piane Boca zum Beispiel, ein Naturwein vom Weingut Hummel, oder ein Orange Wein von Ziereisen in der Steingutflasche. Essen und Trinken mit Schwerpunkt Terroir, nun können wir es wirklich  kaum noch erwarten.

In den letzten Wochen des Lockdowns hat Andy zudem seine Qualität als „Call-Center-Boy“ bewiesen. Tagelang haben sie gefüllte Wein- und Gourmet-Kisten satt Gäste auf dem Tresen versammelt, um sie zu verschicken. Seit Covid-19 ist eben nichts mehr, wie es einmal war. Wenn man unbedingt möchte, kann man solche Krisen auch als Chance verstehen. Das Nobelhart & Schmutzig hat es verstanden, und denkt Gastronomie neu. Über einen Onlineshop, einen Lieferservice hinaus, bringen sie das Erlebnis in die Küchen ihrer Gäste & Freunde.

Blog Billy14 1900 Nobelhart 1 58 “Mit Corona ändert sich alles. Außer unsere Werte. Sollten Sie von außerhäusigen Frivolitäten weiterhin Abstand nehmen, bieten wir Ihnen anstatt des Besuchs in unserem Speiselokal ab sofort auch die Möglichkeit, sich etwas Nobelhart in Ihr Zuhause zu holen. Ebenso brutal lokal und kompromisslos gut.”

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“Ich wollte für mich privat den Zugriff haben auf gute Lebensmittel. Mit dem Restaurant ist das einfacher.”

Das war einer der Gründe die Billy Wagner uns genannt hat, weshalb er sein eigenes Restaurant eröffnet hat.

Das Konzept: gute Lebensmittel aus der Region. Speise lokal lautet die Devise. “Den Menschen, die hier leben, wurde nach 1990  komplett die Identität entzogen. Ob das nun Kunst, Philosophie, Handwerk, Industrie, Musik, Kleidung oder eben Essen ist. Wenn wir hier eine gute Küche machen und die Lebensmittel und Produzenten featuren, dann stiften wir auch wieder eine Identität.”

Küchenchef Micha Schäfer und Kollege Lukas pflegen zu all ihren Lieferanten eine persönliche Beziehung. Es geht um gegenseitiges Verständnis. Was braucht eigentlich ein Koch und was braucht der Landwirt?

Wir verändern etwas.
Auf dem Feld, in der Küche & in den Köpfen.

 

Essen ist ein politischer Akt. Jeder setzt ein politisches Statement mit dem, was er einkauft. Um alle Foodakteure zum gegenseitigen Austausch an einen Tisch zu bringen, hat Billy zusammen mit dem Restaurant Horváth 2017 Die Gemeinschaft‘ gegründet. Friederike Gaedke oder “Frieda” wie Billy sie ruft, ist gerade mit dem Einsortieren der Kondome beschäftigt (auch das ist nobel und hart). Eigentlich aber ist sie die Leiterin der Gemeinschaft und organisiert das Symposium.  Ziel ist die gemeinsame Definition und Vermittlung einer neuen Esskultur auf Basis einer Landwirtschaft, deren Wert gesellschaftlich respektiert und anerkannt ist. Eine wichtige Arbeit, die aktuell vor besonderen Herausforderungen steht.

 

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“Was mich interessiert? Meine Frau!”

Als wir Billy fragen, was ihn neben gutem Essen und Wein noch interessiert, überlegt er nicht lange: “Meine Frau interessiert mich. Sie ist Psychotherapeutin und das ist toll. Wir leben in zwei  unterschiedliche Welten, ich bin 9 Jahre älter und wir haben unterschiedliche Blickwinkel auf alles. Ich bin der Laute, sie ist die Leise, das trifft sich ganz gut.” Sie nennt ihn ihren ‚Mäusepsychologen‘ – und sind wir mal ehrlich, die Liebe zum Gast und das psychologische Geschick der “Wirte” ist es doch, das uns das Essen und den Wein noch mal so gut schmecken lässt.

Mit seinem Koch Micha Schäfer arbeitet er seit gut sieben Jahren zusammen. Das ist eine lange und intensive Zeit, in der sich die Lebensumstände ändern. Und auch hier wissen die Partner den Umstand zu einer konstruktiven Ressource zu drehen. Sie begeben sich regelmäßig in eine Art “Paartherapie”, wie Billy es nennt. Prophylaxe ist eben besser als heilen.
 Auf diese Idee hat die beiden übrigens die Ehefrau von Billy Wagner gebracht.

Billy21 „Es wird ein aufeinander abgestimmtes Menü von 10 Gängen geben, das war’s. Dabei richten wir uns nach der Jahreszeit und der Verfügbarkeit der Produkte. Was die Natur nicht bietet kann nicht verarbeitet werden. Ganz einfach.“

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Es ist so weit. Wir werden an den Tresen gebracht. Ein schlichtes Blatt Papier stellt die Küchenmannschaft vor, zu der auch einige Frauen gehören. “Please take memories, no photos” steht geschrieben, der Grund, weshalb es hier leider keine visuellen Beweise der Kochkunst gibt. Der verordnete Sicherheitsabstand lässt uns viel Raum, auch zum Denken. Dazu passt am besten ein Aperitif. Andy empfiehlt uns einen Lambrusco?! Den habe ich zuletzt mit Anfang zwanzig getrunken. „Was ist das?“ Eine abgefahrene Mischung aus Fassprobe, Hefearomen und ganz ausgeprägter Fruchtigkeit. Damit haben die Nobelharts 2019 ins neue Jahr gefeiert. Vermeintlich schlicht geht es weiter, es gibt: Brot. Dazu selbst gemachte Butter, frisch geschabt aus dem Steinguttopf, wunderbare Krause Glucke, Sauerampfer und – Zwiebeln. Die wurden lange in Molke und Butter reduziert. So muss es im Himmel schmecken.

Als Essenswerkzeuge werden uns die Hände empfohlen, für jeden Gang. Für Weicheier gibt es auch Besteck. Unprätentiös liegen Messer, Gabel und Löffel in einer Backform, zur Selbstentnahme.

Wir haben einen unverstellten Blick in die Küche. Hier läuft alles extrem koordiniert. Jeder Handgriff sitzt. Ein eingespieltes Team, das keine lauten Ansagen braucht, wie wir es von den TV-Köchen kennen. Micha Schäfer hat ein wachsames Auge und vollendet, wo gewollt, bevor die Speisen zum Gast kommen. Hier steht er im Mittelpunkt und immer wieder die “guten Lebenmittel”. Als wir ihn fragen, wann das für ihn ist, überlegt kurz und sagt: ein Lebensmittel ist gut, wenn es schmeckt, wie es auf dem Hof riecht. Er bezieht seine Ware direkt vom Hof. Diese Qualität bekommt man nur, wenn man den Handel ausschließt. Und wenn man direkt mit Erzeugern arbeitet.

Head Chef Micha Schäfer Foto: Marko Seifert – Düsseldorf

Zu fast jedem der vorzüglichen Gänge lernen wir ein anderes Teammitglied kennen. Wir erfahren nicht nur was auf dem Teller liegt, sondern auch woher es kommt und manchmal sogar, wie es zubereitet wurde. Kurz davor, perfektes Timing, taucht Sommelier Andy auf und bringt uns Passendes aus dem Wein- und Bierkeller. Überhaupt Bier: eine Welt, die ich bisher nur als “Knolle” oder “Kölsch” kannte, und die nichts mit dem zu tun hat, was wir an diesem Abend genießen dürfen. Andy nimmt uns ein dutzendmal mit in die Weinkeller, an die Braukessel und Destillerien von kleinen, feinen Manufakturen. Manche Flaschen sind schon sehr alt. Wie gut, dass der MHD-Wahnsinn hier noch keinen Einzug gehalten hat.
 Wir hatten uns gegen eine Flasche und für eine Trink-Begleitung entschieden, die beste Wahl!

Zwischen dem zweiten und dritten Gang, empfiehlt man uns noch ein Stück vom frisch erlegten Hirsch mit fermentiertem Rotkohl, nur wenn wir möchten. Ein, zwei Gänge vergehen, dann habe ich mich entschieden und probiere das gute Stück. Wenn nicht jetzt, wenn nicht hier, wann dann?

Bis auf einen Teller, ein Odefey-Hühnchen aus unserer Heimat, sind die Gänge vegetarisch. Ich vermisse nichts, im Gegenteil.

Wir zählen mit, nur noch vier, dann drei, dann zwei und nach gut 150 Minuten sind wir beim letzten Gang. Ein Haselnusseis. Mir steht der Angstschweiß auf der Stirn. Gleich ist es vorbei. Das darf doch nicht wahr sein. Der Mann aus der Pattiserie sieht mich an und versteht, was los ist. Ohne Zögern und großes Nachfragen bringt er uns den gleichen Gang noch mal. Ja, ist denn schon Weihnachten?

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Irgendwie sind die 5 Stunden jetzt vergangen und die Sperrstunde treibt uns auf die Straße – nicht ohne einen letzten Gruß aus der Küche. Den überreicht uns Billy an der Garderobe, bevor er uns freundlich verabschiedet. Wir fühlen uns wie nach einem Theaterbesuch, nur satter. Es war keine Inszenierung, es war eine lässige, gekonnte Darbietung dessen, was Essen auch sein kann: Brutal, lokal und lecker!

Wir schließen die Tür mit dem AfD-Verbotssticker. Schweigend und zufrieden schlendern wir die Friedrichstraße entlang, Richtung Checkpoint Charlie …

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Nobelhart & Schmutzig

Billy Wagner und Micha Schäfer